Page 26 - Rituale - in Beratung und Therapie
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gesicherten, gesellschaftlichen Orientierung und muss dort
zurechtkommen. Mit dieser zweiten Phase können Gefühle der
Verwirrung, der Orientierungslosigkeit und der Angst verbunden sein.
Turner bezeichnet dieses zweite Phase auch als die liminale Phase. Die
Vergangenheit hat ihre Macht verloren, die Zukunft hat jedoch noch
keine definitive Form angenommen. Sie ist die wichtigste Phase des
rituellen Prozesses, indem sie den Angelpunkt der Transformation
darstellt. Diese Phase weist Merkmale des Unstrukturierten, des
Vieldeutigen, des Chaotischen und des Paradoxen auf.
In der dritten und letzten Phase - der Aggregation (lat. Vereinigung), der
Zusammenführung - geht es um die bewusste Integration der
Ritualerfahrung. Die Aufgabe besteht darin, den eigenen
Lebenszusammenhang bei der Rückkehr aus der Ritualzeit im Licht der
Grenzerfahrung neu zu sehen und zu gestalten. Das Grundmotiv der
Initiation ist die Grenzüberschreitung oder etwas sanfter ausgedrückt, die
Erforschung von Grenzbereichen der menschlichen Seele. Im
Vordergrund steht dabei ein innerer Öffnungsprozess für eine erweiterte
Dimension von Leben und Bewusstsein. „Der Handlungszusammenhang
des initiatorischen Rituals ermöglicht dem Initianden, die
Grenzerforschung und evtl. -überschreitung konkret zu erfahren und auf
der Ebene des Bewusstseins den Prozess der Selbsttranszendenz
innerlich zu vollziehen.“ 1
Rituale im beraterischen, therapeutischen Kontext können generell als
„Übergangsrituale“ bezeichnet werden, weil sie die Aufgabe eines
ganzheitlich, transformatorischen Entwicklungsschrittes verfolgen. Diese
Dreiteilung findet sich u.a. auch in der chaostheoretischen Beschreibung
11 Ludwig, Stephan, a.a.O. Seite 5
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